6.3 Richertsche Schulreform: Berücksichtigung der Individualität der Schüler

In Anlehnung an frühere Ansätze der preußischen Schulaufsicht begann der federführende Ministerialbeamte Hans Richert (Richertsche Schulreform), Lerninhalte und –formen neu zu gestalten. Hauptziel der 1925 bis 1927 in Preußen eingeführten Gymnasialreform war die „Erziehung zu humaner Bildung“ durch einen „kulturkundlichen“ Unterricht, der unter dem Motto „Konzentration“ statt „Zersplitterung“ stand. Das Gymnasium erhielt dabei die Aufgabe zugesprochen, die Bildungsgüter der antiken Kultur zu vermitteln. Die Reduzierung der Pflichtstunden um drei bis vier Prozent gegenüber 1901 wollte die viel gescholtene „Überbürdung“ der Schüler abbauen, kam aber auch dem dringend notwendigen Sparzwang entgegen. „Arbeitsunterricht“ und freie Arbeitsgemeinschaften sollten der Individualität der Schüler Rechnung tragen. Mit einer größeren Freiheit der Lehrer in der methodischen und inhaltlichen Gestaltung verband sich gleichzeitig die Auflage, an den Richtlinien orientierte klasseneigene Jahreslehrpläne jeweils zu entwickeln und zur Überprüfung einzureichen.

Die Reform zielte ausdrücklich auf die Erziehung der Schüler zu einer republikanischen Staatsordnung. Am Anfang eines jeden Jahresdrittels sollten alle Klassen „einen Ordner und zwei Sprecher“ wählen. „Die Ordner und Sprecher der Klassen UII – OI [Klasse 10 bis Stufe 13] bildeten den Schülerausschuß, der aus seiner Mitte einen Vorsitzenden wählte“. Der Klassenlehrer hatte „in der Regel“ monatlich eine „Klassengemeinde“ zu leiten, eine Einrichtung, die sich nach Meinung von Genniges „ bewährt[e]“. Der „Elternbeirat“ aus 10 (im Juni) zu wählenden Müttern (z. B. 1928 vier Damen) und Vätern hielt in der Regel zweimal im Jahr eine Sitzung ab, – „sämtlich im Geiste herzlichen Vertrauens zwischen Elternhaus und Schule“. Auf „Elternversammlungen“ wurden „Fragen der Schulgeldermäßigung, der Unfallversicherung, der Schulzeugnisse besprochen und den Eltern die Sorge für die sittliche Bewahrung ihrer Kinder dringend ans Herz gelegt“. 1929 klagte allerdings Genniges, „leider war die Teilnahme nicht immer so zahlreich, wie es im Hinblick auf die große Bedeutung derartiger Beratungen wünschenswert gewesen wäre“.

Mit dieser Neuausrichtung des höheren Schulwesens eng verbunden ist der Name des ersten Nachkriegsschulleiters des Beethoven-Gymnasiums, Dr. Karl Schümmer. In den damaligen Richtlinien, so lobte sein Nachfolger, Dr. Wilhelm Grenzmann, sein Wirken, sei sein Geist zu spüren; „man könnte fast an der Formulierung einzelner Sätze feststellen: Hier hat Direktor Schümmer mitgewirkt“. In den anschließenden Lehrgängen zur Umsetzung der Reformen wäre „die subtilste und feinste Arbeit“ geleistet worden (Jahresblätter 1960).

 

Zusammen mit einigen vorgezogenen Änderungen erhielt die Reifeprüfung von Ostern 1927 an ihr endgültiges Gesicht: Eine „mathematische Arbeit“ war in allen Schultypen anzufertigen. Beim Deutschaufsatz konnten die Schüler zwischen vier Aufgaben wählen, die aus jeweils verschiedenen Gebieten hervorgingen. Als noch einschneidendere Revision galt die endgültige Abschaffung des lateinischen „Scriptums“ (eines Aufsatzes in Lateinischer Sprache) – in der Übergangszeit war eine „deutsch-lateinische Übersetzung“ gefordert. Mit der seither geltenden Übersetzung eines lateinischen Originaltextes ins Deutsche wurde die „Entwicklung des modernen Gymnasiums, die mit dem Verzicht auf den lateinischen Aufsatz einsetzte, … folgerichtig zu Ende geführt“ (Bölling). Die Gymnasialschüler mussten jeweils eine noch nicht behandelte, inhaltlich geschlossene Originalstelle eines aus dem Unterricht bekannten griechischen bzw. lateinischen Autors ins Deutsche übersetzen; im Lateinischen sollte „eine dem Stilcharakter des Schriftstellers möglichst nahe kommende Wiedergabe in guter deutscher Sprache“ erfolgen (in der Regel ein Auszug aus Seneca, Tacitus oder den Briefen des jüngeren Plinius).

Selbst bei eindeutigem Leistungsbild gab es keine Befreiung von einer mündlichen Prüfung, die sich auf die vier schriftlichen Fächer und auf ein vom Abiturienten ausgewähltes Fach beziehen konnte, das die „besondere Leistungsfähigkeit“ des Schülers beweisen sollte. Ganz neu war die für alle verbindliche Prüfung in Sport mit leichtathletischen und turnerischen Übungen und Spielen. Im Gegensatz zur Kaiserzeit musste nicht nur jeder Schüler mit der Meldung zur Prüfung seinen Lebenslauf mit einem sehr ausführlichen Bildungsgang anreichern; auch die Lehrer hatten ein sehr detailliertes Gutachten über Begabungen, Leistungen und Tätigkeiten der Abiturienten zu schreiben. Jedes Zeugnis schloss mit einem Gesamturteil: „Bestanden“, „Gut bestanden“, „Mit Auszeichnung bestanden“; hingegen entfielen die früheren Kopfzensuren für „Betragen“ und „Aufmerksamkeit“. Die Anhänger einer Schulreform waren mit dieser Reifeprüfungsordnung großenteils einverstanden; sollte sie doch nicht mehr die Schwächen der Schüler, sondern ihre individuelle Stärke und die „Vorzüge ihrer Persönlichkeit“ aufzeigen.

6.4 Umsetzung der neuen Richtlinien auf dem Beethoven-Gymnasium: