10.1.4 Das Beethoven-Gymnasium kommt nicht „zur Ruhe“

Auch die Einführung des romanischen Zweiges konnte eine kontinuierliche Abnahme der Schülerzahlen seit Mitte der 60er Jahre nicht verhindern (1969 besuchten das Beethoven-Gymnasium nur noch 550 Schüler). Es gab dafür eine Vielzahl von Gründen: die wachsende Zahl neuer Gymnasien („Besonders das Erzbischöfliche Gymnasium in Beuel hielt viele Gymnasiasten im rechtsrheinischen Bonn“, Bonner General Anzeiger, 6. März 1970); die Abwanderung der Bonner Bevölkerung aus der Innenstadt; die sinkende Akzeptanz der rein altsprachlichen Ausrichtung des Beethoven-Gymnasiums, zumal das „Schicksal der gescheiterten Lateinschüler“ auch im Kollegium als „Problem“ erkannt wurde; die Zunahme des Englischen als allgemeine erste Fremdsprache; mangelnde Werbung bei den Eltern der Grundschüler; das „Vorurteil“ der Grundschullehrer, der Besuch des Beethoven-Gymnasiums komme nur für die „Spitzen“ in Frage.

Auch die räumliche Einschränkung und der Baulärm durch die Errichtung der neuen Gymnastikhalle hatten Einfluss auf die Anmeldezahlen. Seit Beginn der 60er Jahre zeichnete sich nämlich ab, dass die Turnhalle im Aulagebäude für die vielen Schüler nicht ausreichte. Die Schule musste in die Gymnastikhalle der Universität und seit 1964 auch in die Turnhalle der Münster-Grundschule ausweichen. Für eine neue Gymnastikhalle, in der vollwertiger Sportunterricht gegeben werden konnte, bot sich als einzige Stelle das zur Rheinseite unter dem Schulhof gelegene Grundstück an. Allerdings musste Rücksicht auf die landschaftsgeschützte Rheinfront und die Statik der im Süden benachbarten Bremer Landesvertretung genommen werden.

Im August 1964 begannen mit Presslufthämmern die Abbrucharbeiten des „nicht sehr zweckmäßig gebauten“ Ruderkellers, – unter beträchtlicher Störung des Unterrichts. Darüber hinaus wurde der Schulhof zu einer einzigen Baustelle, so dass die Schüler in der großen Pause auf die Wandelhalle und die Gänge angewiesen waren, – mit erheblichen Konsequenzen für den Lärm und die Sauberkeit im Schulgebäude. Der nach 2 ½ jähriger Bauzeit im Februar 1967 fertig gestellte Baukörper aus Sichtbeton bestand im Untergeschoss aus einer großen Bootshalle (mit Platz für 16 Boote, auch einen Achter), darüber aus der Gymnastikhalle, einem Geräte- und zwei Umkleideräumen, einem Wasch- und Duschraum, einem Lehrer- und dem Rudernebenraum. Bis auf das Hochreck besaß die 18 x 15,5 m große Halle die Ausstattung einer normalen Turnhalle mit Spiel- und Übungsmöglichkeiten für Basketball. Der Schulhof wurde durch den Bau nicht nur um 135 m² vergrößert, sondern erhielt auch von der Rheinseite her einen neuen Treppenaufgang. Bis zu den Sommerferien 1967 war dann auch der Schulhof von den Baustellenresten befreit und soweit wieder instand gesetzt, dass er bis zur Mauer an der Böschung benutzbar war.

 

Doch größere Ruhe und geregelte Außenverhältnisse hielten nicht lange an, da der Bau der Untergrundstraßenbahn (U-Strab) unter der Adenauerallee mit einer Haltestelle vor den Toren der Schule begann. Die Lärmbelästigung nahm nunmehr ein bisher nicht für möglich gehaltenes Ausmaß an und die Rammarbeiten ließen das ganze Vordergebäude zeitweilig erzittern; an manchen Tagen war in bestimmten Klassen der Unterricht kaum möglich. Die Schule versuchte vergeblich, den Beginn der „unerträglichen“ Rammstöße auf den späten Vormittag verschieben zu lassen, und der Vorschlag des Staatshochbauamtes, schallschluckende Wände und Fenster zu installieren, ließ sich kurzfristig nicht realisieren. So blieb nur die Hoffnung auf eine zügige Fertigstellung der „U-Strab“.

 

Eine ebenso äußere wie innere Unruhe brachten seit Ende der 60er Jahre die Proteste und Demonstrationen von der Universität und dem Hofgarten her (vornehmlich im Zuge der Verabschiedung der Notstandsgesetze) in das nahe gelegene Beethoven-Gymnasium. Studenten verteilten auf dem Hof Handzettel und Flugblätter und versuchten bis in einzelne Klassen vorzudringen, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Den größten Wirbel verursachte jedoch eine Fragebogenaktion der Redaktion der langjährigen Schülerzeitung „Forum“ zum Sexualverhalten im Januar 1970. Vorausgegangen waren Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur „Geschlechtserziehung in der Schule“, die die Schulleitung zum Anlass für die Gründung eines Ausschusses nahm (6 Lehrer, 1 Elternvertreterin und 1 Oberprimaner), der die Wünsche und Ansichten der Lehrer, Schüler und Eltern erfragen und daraus eine konkrete Form der Verwirklichung der Geschlechtserziehung erarbeiten sollte. Auf vier Versammlungen seit November 1969 begrüßten die Eltern der Unter- und Mittelstufe eine schulische Geschlechtserziehung als Ergänzung einer Aufklärung im Elternhaus, aber nicht als eigenständiges Fach, sondern „wie ein roter Faden“ in vielen Fächern und allen Schuljahren.

Bevor aber die Kommission die Schülermeinungen erfragen konnte, wurden Redakteure des „Forum“ tätig. Sie glaubten nicht, dass Lehrer und Eltern auf Grund ihrer eigenen „repressiven“ Erziehung und des bestehenden politischen (kapitalistischen) Systems die richtige Sexualaufklärung leisten könnten. Sie wollten daher selbst „Informationen über das Sexualverhalten von Jugendlichen“ sammeln, um für ihre „an der Sexualtheorie Reichs orientierten Analyse unterdrückter Sexualität einen empirischen Befund zu erhalten“.

Für ihren Fragebogen nahmen sie als Vorbild die Aktion der Frankfurter Schülerzeitung „Bienenkorb-Gazette“: Abgefragt wurde u. a. die Meinung zu sexuellen Problemen, Selbstbefriedigung, körperlicher Enthaltsamkeit, Verhütungsmitteln, Orgasmus usw. sowie zu den politisch-ökonomischen Ursachen und Folgen verdrängter Sexualität. Der Fragebogen sollte nämlich Anstoß geben zu einer „in vielen Fällen ersten Auseinandersetzung mit der erlebten Unterdrückungssituation“ in Familie und Schule, um die latenten Konflikte innerhalb der „autoritären Erziehungsinstitutionen“ zum „Ausbruch“ zu bringen.

Zur Rede gestellt, versprach der „verantwortliche“ „Forum“ – Redakteur aus der Unterprima (Stufe 12) dem stellvertretenden Schulleiter, den Fragebogen nicht an die Sextaner und Quintaner (Klassen 5 und 6) zu verteilen und bei der endgültigen Abfassung den Sexualkunde-Ausschuss hinzuzuziehen. Beides unterblieb, denn der unveränderte Fragebogen wurde anderntags vor den Toren der innerstädtischen Gymnasien – außerhalb der Eingriffsmöglichkeiten der Schulleitungen – an alle, auch die jüngeren Schülerinnen und Schüler verteilt. Es kam zu Handgreiflichkeiten mit empörten Eltern vor den Mädchenschulen, zu einer polizeilichen Durchsuchung der Forum – Redaktion und zur vorübergehenden Schließung des Redaktionsraumes, zu Schulstrafen für die Hauptbeteiligten, zu Gegenflugblättern, zu Strafanzeigen gegen die Verfasser und ihre Helfer bei der Verteilung und zu einer Beschlagnahme der als „jugendgefährdend zu bezeichnenden Schriften“, zu wütenden Leserbriefen und zu einer ausführlichen Berichterstattung in den regionalen und überregionalen Medien (Rheinischer Merkur) und zu einer reißerischen Aufmachung im Boulevard („Sex für Sextaner, Die Herren Schüler bitten zu Bett!“).

In einer spontanen Unterschriftenaktion erklärte sich ca. die Hälfte der Schüler des Beethoven-Gymnasiums mit dem Protest einiger Oberprimaner („Uns stinkt’s! Das Maß ist voll!!) solidarisch, die die „Plattitüden einiger autoritärer Möchtegern-Linker“ unerträglich fanden und sich gegen die „autoritäre Minderheit“ in der „Forum“-Redaktion wandten. Die Elternpflegschaft des Beethoven-Gymnasiums, die ihr Erziehungsrecht durch „Dritte“ beeinträchtigt sah, wandte sich schließlich an den Ministerpräsidenten, den Erlass über Schülerzeitungen (27. März 1968) und dessen Erläuterung (7. März 1969) so zu ändern, dass in Zukunft die Schulleitung „zusammen mit den Eltern gemeinsam das uneingeschränkte Recht behielten, auch bei der Abfassung und Verbreitung von Schülerzeitschriften angemessen erzieherisch tätig zu sein“.

 

Die Aufregung über die „Sex“ – Fragebogenaktion und über angebliche Verteilung und Konsumierung von Drogen auf dem Schulhof erreichte gerade ihren Höhepunkt, als die neuen Sextaner angemeldet werden sollten: Das Beethoven-Gymnasium konnte 1970 nur noch eine schwache Sexta verbuchen. Im Schuljahr 1971/72 sank die Schülerzahl auf 450. Schulleitung und Kollegium mussten sich ernstlich Sorgen um die zukünftige Entwicklung der Schule machen. Der Plan, das Beethoven-Gymnasium an der Peripherie Bonns (Duisdorf, Lengsdorf) neu zu errichten, um aus der immer schwieriger werdenden Verkehrssituation herauszukommen, wurde allerdings im März 1969 vom Kollegium (bei einer Prostimme) abgelehnt: Eine für die Zukunft der Schule ebenso bedeutsame Entscheidung wie die Ergebnisse der intensiven Diskussion von Ende 1967 bis 1970 über Maßnahmen zur inneren und äußeren „Reorganisierung“ des Beethoven-Gymnasiums, – herrschte doch allgemeiner Konsens, nur innere Reformen könnten den „ramponierten Ruf“ wiederherstellen.

10.1.5 Überlegungen und Maßnahmen zu einer „inneren Reform“ der Schule