11.16 Neue Richtlinien in der Sekundarstufe I

11.16.1 Erarbeitung schulinterner Lehrpläne 

Gleich nach seinem Amtsantritt besuchte der neue Schulleiter viele Grundschulen im Beueler und im Bonner innerstädtischen Raum, um die methodische und inhaltliche Umsetzung der neuen Grundschulrichtlinien und die verschiedenen Schwerpunkte derjenigen Grundschulen kennen zu lernen, von denen in der Regel mehrere Schülerinnen und Schüler in die Eingangsklassen des Beethoven-Gymnasiums gingen. An den einzelnen Schulen wurden in unterschiedlicher Intensität nach Prinzipien der Montessori-Pädagogik (Freiarbeit, Wochenplan) unterrichtet. Doch erwarteten die Grundschulkollegien, dass auch die aufnehmenden Gymnasien an diese Methoden anschlossen und den Übergang fließend gestalteten.

Kötting lud daher die Rektorin einer Beueler Grundschule ein, um vornehmlich in der Erprobungsstufe eingesetzte Lehrerinnen und Lehrer in die Grundschulrichtlinien einzuführen und die neuen Arbeitsformen an Beispielen erläutern zu lassen. Im Oktober ließ der Schulleiter einen „Arbeitskreis freiere Arbeitsformen“ für die Erprobungsstufe einrichten, der während des ganzen Schuljahres untersuchte, in welcher Weise man an diese Arbeitsweise anknüpfen konnte und ob überhaupt Montessori-Elemente im Gymnasialunterricht übernehmbar waren. Einzelne vorsichtige Versuche zeigten sehr schnell die Grenzen auf; es fehlte an geeignetem Material, und um neues herzustellen, hätte der Aufwand in keinem Verhältnis zum Resultat gestanden. Auch die ständige Aufeinanderfolge neuer sprachlicher und grammatischer Elemente im Sprachunterricht erschwerte solche freieren Arbeitsformen. Wohl konnten in Übungsphasen und bei Wiederholungen Montessori-Elemente verwirklicht werden. Der Arbeitskreis kam zu der Überzeugung, in der Erprobungsstufe Freiräume für die Selbsttätigkeit eher in einem fächerübergreifenden und projektorientierten Unterricht zu eröffnen.

 

Dafür wollte man zunächst die endgültige Herausgabe der neuen „Richtlinien für die Sekundarstufe I“ abwarten, deren Vorarbeiten zwar schon seit 1985 liefen, im Entwurf aber erst Anfang Februar 1991 in den Schulen eintrafen mit der Aufforderung zur Stellungnahme bis zum 22. März 1991(!). Der Entwurf gliederte sich in einen allgemeinen Teil, „Richtlinien“ genannt, an den sich der „Lehrplan“ – nach Schulformen getrennt – als fachspezifischer Teil anschloss. Kritik kam sogleich auf, da der Richtlinienteil im Kultusministerium ausgearbeitet war und eine konzeptionelle Zusammenarbeit mit den von dem Kultusminister berufenen Fachkommissionen fehlte.

Die allgemeinen „Richtlinien“ für das Gymnasium gliederten sich in:

„I.

1. Mündige Persönlichkeit:
a) Entfaltung individueller Fähigkeiten,
b) Aufbau sozialer Verantwortung,
c) Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft,
d) Orientierung an Grundwerten,
e) Kulturelle Teilhabe.

2. Grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten:
a) Konzentration auf grundlegende Erkenntnisse,
b) Lernen in Zusammenhängen,
c) Bedeutsame Inhalte und Methoden,
d) Lernen lernen.      

  1. Grundsätze des Lehrens und Lernens:
    1) Wissenschaftsorientierung,
    2) Schülerorientierung,
    3) Exemplarisches Lernen,
    4) Gestaltung der Lernprozesse,
    5) Leistungsbewertung.

III. Aufbau des Bildungsganges: 5/6; 7/8; 9/10.

  1. Schulleben.
  2. Schulprogramm und Profil“.

        

Die Vereinigung der Bonner Gymnasialdirektoren kritisierte die neuen Entwürfe, deren Ziele zu unpräzise und allgemein seien; es werde „mehr Wert auf Einblick und Orientierung als auf Kenntnisse und Fähigkeiten gelegt“. Auch bleibe die Forderung nach Schülerorientierung zu unklar; die für das Gymnasium unerlässliche Wissenschaftspropädeutik weiche einer vagen Wissenschaftsorientierung. Man könne den Eindruck gewinnen, Unterricht und außerunterrichtliche Aktivitäten ständen auf gleichem Niveau. Für Kötting offenbarten die „Richtlinien“ den politischen Willen, die Sekundarstufe I von der Sekundarstufe II zu trennen und diese mit anderen Kollegstufen zusammen zu legen. Eine Stufenschule aber sei abzulehnen schon im Hinblick darauf, dass der Unterricht in Unter- und Mittelstufe sich auch auf die Oberstufe ausrichte. Ebenso passe eine Leistungsdifferenzierung nicht zum Gymnasium, in dem am Ende der Schullaufbahn alle am gleichen Ziel ankommen sollen. Von der Eingangsklasse an seien eine breite Grundbildung und eine wissenschaftspropädeutische, nicht wissenschaftsorientierte Arbeitsweise zu verlangen.

Der Schulleiter hoffte, dass die sich in den Richtlinien abzeichnenden Tendenzen der Auflösung des Gymnasiums nicht durchsetzen würden. Bei den Bonner Gymnasien war angesichts der zurückgehenden Schülerzahlen und der drastischen Sparpolitik die Absicht der Schulleitungen erkennbar, entgegen der Enttypisierung wieder die alten Schulprofile stärker zu betonen. Das Beethoven-Gymnasium mit den drei Pflichtfremdsprachen und der eindeutigen Sprachenfolge (dem Latein konnte niemand aus dem Wege gehen!) hatte seinen Schwerpunkt nie aufgegeben.

 

Die Arbeit an den neuen Richtlinien begleitete in der zweiten Hälfte des Schuljahres 1991/92 das sogenannte „Handlungskonzept der Landesregierung“, das u. a. der Straffung des Unterrichts, der Anhebung der Klassen- und Kursstärken sowie der Verkürzung des Angebotes diente, letztlich jedoch auch auf schwierigere Unterrichtsbedingungen für Lehrer und Schüler hinauslief: Die Durchschnittszahl von 19,5 Schüler pro Oberstufenkurs bedingte Zusammenlegungen und eine Vergrößerung der Gruppen und eine Einschränkung des Wahlangebots durch Reduzierung kleinerer Kurse. Eine erweiterte Wahlmöglichkeit sollte durch eine Kooperation mit anderen Gymnasien erreicht werden, ohne dass dafür sächliche (Angleichung der Stundenpläne und Oberstufensysteme) und verkehrstechnische (schnelle Erreichbarkeit) Voraussetzungen gegeben waren. Die Richtzahl für die Klassen 5 bis 10 – 28 bis 30 Schülerinnen und Schüler – durfte nur (geringfügig!) überschritten werden. Die zunächst verlockend klingende Bandbreitenregelung für die Fächer (z. B. Deutsch in Klasse 5:   4 bis 6 Stunden) hätte der Schule eine Schwerpunktsetzung bzw. Freiräume erlauben können, wurde aber, wenn kein Fach ausfiel, konterkariert durch die vorgeschriebene Gesamtstundenzahl. Auch konnte eine dringend notwendige Zusatzstunde für die spät einsetzende dritte Fremdsprache im Differenzierungsbereich der Klasse 9/10 nicht mehr verbucht werden.

Einen besonderen Verlust bedeutete die Streichung der Orientierungsstunde in der Erprobungsstufe Klasse 5/6, so dass die Klassenleitung kostbare Zeit z. B. für Klassenleitergeschäfte u. ä. von dem eigenen Fachunterricht abzweigen musste. Eine „bittere Pille“ musste auch bei der Arbeitszeitverpflichtung geschluckt werden, denn fast ein Drittel der bisherigen Entlastungsstunden (z. B. aus Altersgründen, für zusätzliche Aktivitäten und besondere Belastungen) fielen weg. Es mochte dahin gestellt sein, ob die in zwei Jahren einzuführende Fünf-Tagewoche (nur zwei freie Samstage mussten eigens beschlossen werden) den Ärger in den Kollegien aufwog.

 

Obwohl die neuen Richtlinien ab Schuljahr 1993/93 verbindlich in Kraft treten sollten, war allen Beteiligten schnell klar, dass dieser Termin nicht eingehalten werden konnte. Ende Juni 1993 waren nur für fünf Fächer die Richtlinienexemplare eingetroffen. Der Termin wurde bald auf den 1. August 1995 verschoben.

Die nunmehr auch auf die Sekundarstufe II ausgerichteten „Richtlinien“ gliederten sich in:

1. Aufgaben und Ziele des Gymnasiums in der Sekundarstufe I (Sek I);

  1. Lehren und Lernen im Gymnasium in der Sek I;
  2. Aufbau des Bildungsganges im Gymnasium in der Sek I;
  3. Gestaltung des Schullebens;
  4. Schulprogramm“.

Unterricht und „sonstige Schulveranstaltungen“ standen gleichrangig nebeneinander. Besonders herausgehobene Aspekte waren die „Schülerorientierung“ und der „fachübergreifende Unterricht“; die aus den Grundschulen vertraute Freiarbeit sollte weitergeführt werden. Die Fachkonferenzen konnten nun ein Jahr lang schulinterne Lehrpläne entwickeln, und die Klassenkonferenzen mussten anschließend Absprachen über fächerverbindendes Arbeiten treffen. Am Schluss war ein zusammenfassendes Schulprogramm zu erstellen, das veröffentlicht würde und der „Öffnung der Schule“ dienen sollte.

 

Zu den überregionalen Einführungsveranstaltungen schickte jede Fachkonferenz zwei Vertreter, die ihrerseits die Rolle von Multiplikatoren an der Schule übernahmen. Doch diese Fachtagungen ergaben in der Rückschau kein einheitliches Bild, da manchmal Dezernenten oder Moderatoren nicht genügend vorbereitet waren und die Richtlinien mehr oder weniger vorlesend darstellten. Der Schulleiter gab daher unter dem Motto „Arbeiten in Ruhe und gewissenhaft“ die Devise aus: bei der Obligatorik den Freiraum in den Richtlinien zu nutzen und bei der zunehmenden Stofffülle eine exemplarische Auswahl zu treffen, beim fächerverbindenden Unterricht (da die Richtlinien und die Fächerabfolge ein in sich verzahntes Curriculum häufig verhinderten) einige fachübergreifende Schwerpunkte zu setzen und dabei die wenigen Möglichkeiten des projektorientierten Unterrichts zu ergreifen. Bei der Schülerorientierung solle man sich ruhig auf Schülerinteressen und -begabungen einlassen.

11.16.2 Möglichkeiten „fächerverbindenden“ Unterrichts