6.4.4 Der Geschichtsunterricht: „Erziehung zum staatsbürgerlichen Geist“

Dem Geschichtsunterricht kam insofern eine besondere Bedeutung zu, als ein Großteil der Bevölkerung den demokratischen Strukturen und Einrichtungen der Weimarer Verfassung skeptisch oder sogar ablehnend gegenüberstand. In den Mittelpunkt stellten die Richtlinien daher auf der Oberstufe die „staatsbürgerliche Unterweisung und Erziehung zum staatsbürgerlichen Geist“. Schon auf der Mittelstufe sollte eine „propädeutische Wirkung“ für die Oberstufe angestrebt werden, indem nicht allein die Lebensbilder „großer Persönlichkeiten“ in den Vordergrund gestellt, sondern auch die Schüler in den Stand gesetzt würden, „die in der Geschichte wirksamen Kräfte in Längslinien verfolgen zu können“. Arbeitsunterricht hielt der Schulleiter „im wesentlichen“ nur auf der Oberstufe für möglich, aber auch hier sei der „Mangel an Zeit hinderlich“; auf Unter- und Mittelstufe stehe der Lehrervortrag im Mittelpunkt.

Die Behandlung des 19. Jahrhunderts auf der Oberstufe stand besonders unter dem Aspekt der „Einheitsbewegung“ und der „Entstehung des modernen Nationalstaatsgedankens“. Der „Einheitsstaat“ sei 1866 und dann vor allem 1871 „in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist durchgeführt worden“, wobei Bismarck „in letzter Stunde und im denkbar günstigsten Augenblick gehandelt“ hätte. Anlässlich der empfohlenen Lektüre von Treitschkes Vorrede zu seiner „Deutschen Geschichte“ beschäftigte sich die Fachkonferenz besonders mit der Frage, wie und unter welchen Schwierigkeiten das Problem „Politik und Moral“ auf der Oberstufe erörtert werden könnte.

Angesichts der allgemeinen Ablehnung der Bestimmungen des Versailler Vertrages kam der Behandlung der „Vorgeschichte des Weltkrieges“ (unter Benutzung der Arbeiten von Wilhelm Mommsen) eine besondere Bedeutung zu. Der Lehrer sollte sich hüten, „bei der Besprechung der Kriegsschuldfrage alle Probleme auf eine möglichst einfache Formel zu bringen“ und dadurch „der Kompliziertheit der Verhältnisse nicht gerecht zu werden“. Wichtiger als die Untersuchung der „39 Tage“ vor Kriegsausbruch sei die „Betrachtung der europäischen Gesamtkonstellation von 1871-1914“.

Bei der Erörterung des Problems „Staatsbürgerliche Erziehung und Weimarer Verfassung“ und der Behandlung der politischen Parteien im Unterricht wies die Fachkonferenz ganz entschieden die Forderung zurück, der Lehrer solle seinen parteipolitischen Stand auch gegenüber den Schülern vertreten, „um dadurch entgegengesetzte Ansichten der Schüler und somit ein lebhaftes Klassengespräch hervorzurufen“. Einig waren sich die Fachlehrer auch in der Notwendigkeit, das Verständnis der Weimarer Verfassung „von Anfang an“ im Geschichtsunterricht vorzubereiten, damit die „ausführliche Besprechung“ in der Untersekunda und Oberprima (Klasse 10 und Stufe 13) sich „mit einer allerdings gründlichen Zusammenfassung und Ergänzung begnügen“ könne. So erhielten auch jedes Jahr alle Schüler, die im Laufe des Jahres „das volksschulpflichtige Alter überschritten“, einen Abdruck der Reichsverfassung.

Ergänzt wurden diese Bestrebungen am letzten Schultag vor den Sommerferien – nach dem Gottesdienst – durch eine Verfassungsfeier für alle Schüler in der Aula mit einer Festrede eines Kollegen im Mittelpunkt, umrahmt von Darbietungen des Schülerchors und -orchesters und Gedichtvorträgen einzelner Schüler.

Ein Ehemaliger (Abitur 1930) kritisierte allerdings seine Lehrer, die Schüler nicht auf „künftige staatsbürgerliche Aufgaben“ vorbereitet und verpflichtet zu haben. Die Weimarer Republik sei nicht „geschätzt“ worden. Auch die Erziehung zu einer „Völkerverständigung“ sei ausgeblieben, sprach man doch „unfreundlich, wenn nicht gehässig, gegen die Franzosen“, deren Verhalten während der Besatzungszeit in Bonn lange in Erinnerung blieb.

6.4.5 Auswirkungen der politischen Radikalisierung: Verbot „staatfeindlicher Tätigkeiten