9.1.7 „Disziplinlosigkeiten“ gefährden die „Schulzucht“

Die Diskussion über „Schulzucht“, „Schulordnung“ und Erziehungsfragen nahm auf den Lehrerkonferenzen der Nachkriegszeit einen breiten Raum ein. Schümmer fühlte sich als „Gast“ der Liebfrauenschule besonders verpflichtet, die Schüler des Beethoven-Gymnasiums ständig zu besonderer Ordnung und Sauberkeit anzuhalten. Von Anfang an versuchte er der durch „Unachtsamkeit“ verursachten „Verunreinigung der Toiletten im Keller“ zu begegnen (denn das sei „den Schwestern nicht zuzumuten!“) und ließ täglich fünf Schüler für Sauberkeit sorgen. Für jede Klasse war ein Schüler zuständig, der am Schluss der letzten Stunde dem jeweiligen Lehrer meldete, dass der Raum in Ordnung sei und kein Papier herumliege. Er hatte die Schüler zu melden, deren Plätze verunreinigt waren, oder selbst aufzuräumen. Der Lehrer musste schließlich den Zustand des Raumes überprüfen. Nachdem in den Sommerferien 1946 das ganze Gebäude „instand gesetzt wurde“, ermahnte Schümmer die Schüler, „besonders sorgsam zu sein“, damit nicht durch ihre „Schuld das Eigentum“ der „Gastgeber beschädigt“ werde; ansonsten drohten „strengere Strafen als bisher“. Da sich gegen Ende des Jahres die „Fälle leichtsinniger und mutwilliger, manchmal auch böswilliger Beschädigung des Schuleigentums“ häuften, beschloss die Lehrerkonferenz, „unnachsichtig die Verweisung von der Schule auszusprechen, wenn noch einmal ähnliches versucht“ würde.

 

Vorschläge und Anordnungen zur Behebung der Schulzucht“ von Seiten der Lehrer und ständige Ermahnungen des Schulleiters an sie, „streng auf die Beachtung der Schulordnung zu drängen und selbst ihre Aufsichtspflicht und überhaupt die grundsätzliche Erziehungspflicht den Schülern gegenüber zu erfüllen“, wechselten sich des Öfteren ab. Ungünstig auf das Lernklima und das soziale Verhalten der Schüler wirkten sich die unterschiedlichen Kriegs- und Nachkriegserlebnisse (Bombardierung, Evakuierung, Flucht) aus. Der „Rollenwechsel“ vom Kriegsteilnehmer (Wehrdienst, Kriegshilfsdienst, Flakhelferdienst, Arbeitsdienst) zum Oberstufenschüler, der sich an die strenge Schuldisziplin gewöhnen musste (Zweieraufstellung auf dem Hof, Rauchverbot auf dem Schulweg und im Gebäude), fiel vielen sehr schwer. Die Absolventen der Reifeprüfung 1946 gehörten den Jahrgängen 1921-27 an. 1947 waren es Schüler der Jahrgänge 1925-28, 1948 der Jahrgänge 1924-30, 1949 der Jahrgänge 1927-31. Die Abiturjahrgänge 1949 und 1950 berichteten von ihrem Eindruck, der Schulleiter wäre den älteren Schülern gegenüber, die in der Hitlerjugend führende Funktionen innegehabt hätten oder Offiziere waren, „mißtrauisch“ gewesen. Sie zitierten sogar Leute, die glaubten, man müsse die „Hitlerjugend-Generation“ als „politisch und sittlich verdorben abschreiben“.

Der Abiturjahrgang 1950 erinnerte sich „besonders an die erste Zeit nach Kriegsende, als sich in der Untersekunda [Klasse 10] 34 Schüler trafen, vorwiegend ältere Jahrgänge mit Kriegserfahrung, Unteroffiziere und Gefreite, Luftwaffenhelfer und Volkssturmleute, denen es nicht leicht fiel, sich wieder an die strenge Schuldisziplin zu gewöhnen“. Vertreter des Abiturjahrgangs 1949 kritisierten in der Rückschau, sie wären von den damaligen Lehrern „wie Kinder“ behandelt worden, dabei hätten sie sich „als Erwachsene verhalten müssen, um zu überleben; insbesondere bei den älteren Lehrern mangelte es an Verständnis für die Verhaltensweise der ‚rauchenden Flegel’. Und diese Flegel holten ihre Kinderjahre nach, die ihnen vorenthalten waren.“ Alter und Aussehen hätten nicht zu den „Disziplinlosigkeiten“ gepasst. Aus „purem Übermut“ wurden Topfblumen auf den Fensterbänken der Mädchenschule auf die Straße geworfen, Lehrerstühle oder einzelne Stuhlbeine als Wurfgeschosse (mit entsprechenden Folgeschäden) benutzt. Obwohl streng verboten, gingen die älteren Schüler in der Pause auf der Straße spazieren. Im Sommer 1946 reagierte Schümmer auf „einige Vorfälle der letzten Tage“ und drohte: „Wenn eine Klasse als Ganzes sich wiederholt schwerer Verstöße gegen die Schulzucht zuschulden kommen“ ließe, hätte „sie das Recht auf Genuß des Unterrichts verwirkt“ und würde „als Klasse aufgelöst“. Die Schüler müssten dann einzeln versuchen, an anderen Schulen unterzukommen. Gleichwohl gelang es der Schule nicht, die überalterten Schüler ständig in ein von strenger „Schulzucht“ geprägtes Schulleben einzuordnen. Sichtlich verärgert über die mangelnde Disziplin soll der Klassenlehrer einer Abiturklasse 1949 sich sehr pessimistisch über ihre Zukunftsaussichten geäußert haben: „Sie gehören zu einer Generation, die man verschleißt, weil sie eben da ist, aus der aber nichts wird“.

 

In seinem Runderlass vom 30. Juni 1947 verkannte der Kultusminister nicht, dass die „heutigen Erziehungsschwierigkeiten weit über das normale Maß hinausgehen. Doch ist die Verwilderung der sittlichen Begriffe, die zu beklagenswerten Vergehen der Schuljugend führt, nicht durch das ungeistige Mittel körperlicher Züchtigung zu beheben … Die noch immer hin und wieder anzutreffende häufige Anwendung der körperlichen Züchtigung ist das traurigste Armutszeugnis, das ein Lehrer seiner erzieherischen Wirksamkeit ausstellen kann. Unbedingt verwerflich ist es, vor allem körperliche Strafen als Vergeltung oder als Stütze äußerer Autorität anzuwenden oder mit ihrer Hilfe Unaufmerksamkeit und mangelhafte Leistungen bekämpfen zu wollen.“ In der Konferenz vom 24. September 1949 berichtete Schümmer „über einen bedauerlichen Fall körperlicher Züchtigung“ und schärfte den Kollegen ein, „möglichst von jeder körperlichen Züchtigung abzusehen“, sondern die „straffe Handhabung der Hausordnung“ anzuwenden.

Diese hatte das Kollegium nach längerer Diskussion am 28. August 1947 beschlossen und am nächsten Tage ihre „besonders eindrucksvolle Bekanntgabe“ durch den Schulleiter gewünscht. Sie enthielt genaue „Anweisungen

1) für das Verhalten auf dem Hof,

2) für den Aufenthalt im Schulgebäude,

3) für das Aufstellen auf dem Hof,

4) für das Verhalten im Hause und in den Klassen,

5) für das Verhalten während des Unterrichts,

6) für die Bestrafung von Verstößen gegen die Hausordnung.

Übertretungen wurden in der Regel mit „Nachsitzen“ geahndet (unter Eintragung in die „Strafliste“ mit Namen, Klasse, Grund und Lehrer). „Sammelarrest“ gab es nur bei Verstößen gegen die Hausordnung, nicht für Störungen im Unterricht. Um das Verhalten der Schüler vor allem während der kleinen Pausen zu verbessern, sollten die Aufsicht führenden Lehrer „mehr als bisher“ mit Ordnungsstrafen vorgehen.

 

Dem Kampf gegen den zu großen Lärm im Haus widmete Schümmer seine ständige Aufmerksamkeit. Im Turnunterricht müsse dieser Kampf „besonders stark geführt“ und ein „fast lautloses Verhalten durch ausgiebigen Gebrauch der Ordnungsstrafe erzwungen werden“. Trotz neuer Hausordnung sei es z. B. nach zwei Monaten bei einer „Zusammenkunft der unteren Klassen in der Halle … zu starkem, die Schule beschämenden Lärm gekommen“. Die Lehrer hätten „besser für Ruhe sorgen“ und Ordnungsstrafen verhängen müssen. In dieser Beziehung kritisierten die damaligen Oberstufenschüler Schümmer in der Rückschau, er wünschte „die Schule wie ein amerikanisches Eliteinternat zu führen“; dass dies mit den älteren Schülern und Abiturjahrgängen bis 1949 „mißlingen mußte, war offenbar für den Schulleiter nicht erkennbar“. Schümmers Nachfolger Grenzmann charakterisierte im Nachhinein die Jugend der Nachkriegszeit als eine „skeptische Generation“, die der „Tradition nicht leicht“ vertraute, die „den berufenen Führern zurückhaltend, wenn nicht gar mißtrauisch gegenüber“ gestanden hätten.

 

Die Klassenlehrer sollten „Elternbesprechungen über grundsätzliche Fragen der Erziehung“ abhalten und vortragen, „was die Schule in Erziehungsfragen vom Elternhaus“ erwartete. In der ersten Konferenz über dieses Thema am 2. März 1946 kam es vornehmlich zu einer Aussprache über die:

„1) Bewahrung und Erziehung der Schüler auf sexuellem Gebiet,

2) Beteiligung der Schüler am Schwarzhandel,

3) Fragen eines neuen jugendbündischen Zusammenschlusses.

Auf den Versammlungen des Schuljahres 1946/47 wurden – „in der Form einer lebhaften Aussprache zwischen Lehrern und Elternschaft – hauptsächlich ff. Fragen diskutiert: Hausaufgaben, […] Schwierigkeiten der Papier- und Lernmittelbeschaffung, Jugendverbände, Essensportionen an völlig unterernährte Schüler, bequemere Regelung der Sprechstunden der Lehrer […], moralische Betreuung der Jugendlichen, Aufklärung zum sittlichen Schutz der Jugend, Empfehlung guter Bücher als Hauslektüre.“ Als Anregung von Elternseite erinnerte Schümmer am 20. 6. 1947 die Kollegen, „mit Rücksicht auf die Zeitverhältnisse“ die Hausaufgaben „auf ein Mindestmaß“ zu beschränken; vor allem sollten sie „möglichst wenige Niederschriften des in der Stunde Besprochenen“ anfertigen lassen.

 

Im Frühjahr 1949 versuchte Schümmer eine Verordnung des Schulkollegiums zu umgehen, die seine Bemühungen um Aufrechterhaltung der „Schulzucht“ konterkariert hätten: Es sollten nämlich vier Untertertien (Klassen 8) zu drei, drei Untersekunden (Klassen 10) zu zwei und zwei Unterprimen (Stufe 12) zu einer Klasse zusammengelegt und eine „Verkleinerung des Lehrkörpers“ erreicht werden. Um die augenblickliche Klasseneinteilung bestehen zu lassen, dem Kollegium Unterricht in völlig überfüllten Klassen zu ersparen und den „Leistungsstand des Beethoven-Gymnasiums“ aufrecht zu erhalten, bot Schümmer den Kollegen an, entweder ein bis zwei Stunden über ihr Pflichtstundensoll hinaus zu geben oder auf die ihnen zustehende Entlastung zu verzichten; das Kollegium zog mit!

 

Als Schümmer am 26. Oktober 1950 65 Jahre alt wurde, gönnte das Kollegium ihm nach der dritten Stunde eine Feier in der Turnhalle der gastgebenden Liebfrauenschule. Die Schüler mussten sich auf dem Hof geschlossen aufstellen und wurden von da von ihren Klassenlehrern der Reihe nach, von Sexta a (Klasse 5) beginnend, in die Halle geführt. Die Oberstufe schloss sich an, als die Mittelstufe Platz genommen hatte. „Ein ganz besonders ruhiges Verhalten“ war an diesem Tage allen Schülern „zur strengen Pflicht“ gemacht worden, insbesondere sollte das Betreten und Verlassen der Halle „in größter Ruhe und Ordnung vor sich gehen“. Während der Feier durfte „überhaupt nicht gesprochen werden“. Anschließend war schulfrei.

9.1.8 „Re-Education“ nach britischem Vorbild: Schülerselbstverwaltung als Teil der Demokratisierung des Schullebens